Mittwoch, 20. April 2011
Die Krücken
archivator, 12:49h
Ludwig saß in einer Nische in den Räumen der Aktenzentrale im Keller an einem schmalen Holztisch unter dem spröden Licht der Neonröhren bei den letzten Bissen seines Frühstücks. Er hört den schleifenden Schritt seines Kollegen Clemens durch die Regalgänge sich ihm nähern. Clemens setzte sich auf den freien Stuhl am Tisch. Aus der Tasche seines grauen Kittels holte er einen Flachmann, schraubte den Verschluss ab und nahm einen Schluck.
"Die Sinting aus der Perso hat eben angerufen. Du sollst hochkommen! Aber keine Eile! Ich habe ihr gesagt, dass du gerade für den Vorstand mehrere wichtige Akten ziehen musst. Eigentlich kann es nichts Ernstes sein. Du hast nur eine Abmahnung vom Saufen und das ist zwei Jahre her. Du warst auch in letzter Zeit nicht groß krank und es absolut nichts vorgefallen!"
Ludwig schraubte seine Thermosflasche mit dem restlichen Kaffe zu und erhob sich schwerfällig: "Na, dann will ich mal!"
Die Sekretärin im Vorzimmer wies stumm mit einer Augenbewegung auf die offenstehende Tür. Ludwig signalisierte mit einem Knöchelschlag gegen die Tür sein Eintreten. Frau Sinting saß mit Abteilungsleiter Mertens und der Betriebsrätin Kramer am Besprechungstisch. Sinting drehte ihren Kopf zur Tür und stemmte ihre ausufernde Figur aus dem Stuhl hoch. Sie legte ihr rotes Jackett, das über der Stuhllehne hing, wie eine Rüstung an als sie Ludwig entgegen kam. Sie streckte ihm den Arm mit der Hand wie eine Lanze zur Begrüßung entgegen und schloss hinter ihm die Tür. Abteilungsleiter Mertens im grauen Anzug reichte Ludwig forsch die Hand über den Besprechungstisch. Ludwig setzte sich an die Seite von Frau Kramer. Sie nickte ihm entschlossen wie ein Wachhund zu. Sie war eine hagere Frau mittleren Alters, die im jahrelangen Kampf für die Angestellten der Firma verbitterte Züge davongetragen hatte. Frau Sinting griff sich mit beiden Händen an die Bügel ihrer Brille, als wolle sie etwas justieren und schlug eine rote Mappe mit dem Firmenlogo vor sich auf: „Herr Ludwig, es wird Ihnen auf der Betriebsversammlung bei der Rede unseres neuen Vorstandsvorsitzenden Herrn Sauter in Erinnerung sein, dass große Veränderungen ins Haus stehen. Wir müssen unser Personal um 531 Mitarbeiter verringern, um mit den anderen Versicherungen noch konkurrieren zu können!“
Auch bei früheren Versuchen der Firma, Kosten durch eine Personalreduzierung einzusparen, kursierten immer solche ungeraden Zahlen von Personen, bei denen Ludwig sich gewundert hatte, warum man diese Zahlen nicht einfach auf- und abrundete. „Gleichzeitig“, fuhr Frau Sinting fort, „werden in Zukunft die Arbeitsabläufe im gesamten Haus so weit wie möglich durch Computer unterstützt. Die Abteilung von Herrn Mertens mit dem Archiv, zu dem Sie gehören, Herr Ludwig, wird davon im großen Stile betroffen sein. Ihr Arbeitsgebiet wird dabei auf eine völlig neuartige Technik umgestellt!“ Abteilungsleiter Mertens nickte kummervoll. „Manch weitaus jüngerer Mitarbeiter als Sie, Herr Ludwig, mit Ihren 55 Jahren, wird da Schwierigkeiten bekommen und sich mächtig anstrengen müssen, um den neuen Anforderungen gewachsen zu sein. Auch unsere Führungskräfte, wie Ihr Abteilungsleiter Herr Mertens, ja, selbst ich, müssen sich da umstellen. Mit dem neuen Vorstandsvorsitzenden, Herrn Sauter, weht jetzt ein anderer Wind! Im Vertrauen: Herr Mertens und ich mussten schon bei unserem Versuch, unsere Mitarbeiter vor abrupten Veränderungen zu schützen, erkennen: Herr Sauter versteht keinen Spaß in dieser Beziehung!“
Herr Mertens schüttelte bedauerlich seinen Kopf mit dem spärlichen Haarkranz.
„Wir sind jedoch zurzeit noch in der glücklichen Lage“, fuhr Frau Sinting fort, „da Sie im nächsten Monat das 56zigste Lebensjahr erreichen, Ihnen ein Angebot mit einer Abfindung anzubieten! Die sogenannte 55er-Regelung. Dies ist eine Möglichkeit, Herr Ludwig, die sich in dieser großzügigen Form Ihnen nicht wieder bieten wird. Im Gegenteil, Herr Sauter schließt für die Zukunft auch keine betriebsbedingten Kündigungen mehr aus! Ihre Abfindungssumme ist so berechnet, dass Sie in Verbindung mit dem Arbeitslosengeld sehr gut bis zu Ihrem Renteneintritt mit 60 Jahren zurechtkommen. Ludwig blickte zur Betriebsratsvorsitzenden Frau Kramer hinüber. Sie nickte Ludwig verbittert zu. Ludwig willigte ohne langes Nachdenken ein. Seine Arbeit im Archiv hatte er in den vergangenen 25 Jahren als die stumpfsinnige Qual einer Arbeitsdrohne empfunden. Die Aussicht, diesem Schicksal jetzt ein Ende machen zu können, wirkte befreiend auf ihn. Er unterschrieb die Vereinbarung, die Frau Sinting der roten Mappe entnommen hatte.
In der Mittagspause räumte Ludwig seinen Arbeitsplatz im Archiv. Er konnte die Firma zu seiner Erleichterung ohne sich von jemandem verabschieden zu müssen, unbemerkt verlassen. Er entging so der gekünstelten Herzlichkeit einer Verabschiedung durch Kollegen, wie er es all die Jahre bei anderen immer erlebt hatte. Ludwig atmete tief durch als er vor der Firma sein Fahrrad loskettete und davon fuhr. Das erste Mal in seinem Leben fühlte er sich wie ein freier Mensch. Er würde Pläne machen und das Leben wieder einholen.
Die Wohnungsgesellschaft bot Ludwig wenige Tage nach Zahlung der Genossenschaftsanteile eine 1,5-Zimmerwohnung an, die von seiner bisherigen Wohnung an der Hauptstraße nur ein paar Seitenstraßen entfernt lag. So konnte er im vertrauten Viertel bleiben. Der Hausbesitzer, stimmte einer kurzfristigen Auflösung des Mietvertrages mit nur schlecht verhohlener Gier zu. „Wie lange haben Sie denn bei uns gewohnt, Herr Ludwig?“, fragte er, als würde er sich nur ungern von ihm als Mieter trennen. Ludwig war einer der letzten alten Mieter im Hause. Der Hausbesitzer ließ bei Auszug eines Mieters die Altbauwohnung renovieren. Die alten Dielen wurden zum Parkett geschliffen, das Bad gekachelt und mit einer Badewanne aus Marmor versehen. Die Speisekammer wurde zur Gästetoilette umgebaut. Die so modernisierten Wohnungen wurden für drei Jahre an Leute vermietet, die aus beruflichen Gründen in diese Stadt zogen und eine erste Bleibe suchten, ehe sie sich in Ruhe nach einer günstigeren Wohnung umsahen. Ludwigs neue Wohnung lag in einer Seitenstraße in einer Siedlung mit nur dreistöckigen Häusern, die großzügig mit Rasenflächen und Bäumen durchsetzt war. Die Siedlung lag kaum 200 Meter von der Einkaufsstraße entfernt, hatte aber durch ihre Abgeschiedenheit einen fast dörflichen Charakter. Die Nachbarn nannten sich hier noch beim Namen und plauderten auf der Straße. Ludwigs Wohnung lag im zweiten Stock und verfügte über einen Balkon zur Sonnenseite.
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